- Ein halbes Jahr bin ich mit der Straßenbahn zur Arbeit gefahren, ich habe dafür zwei Stunden täglich gebraucht. Ich bin immer an der Endhaltestelle eingestiegen, und am anderen Ende der Strecke wieder ausgestiegen. In dieser Zeit habe ich meine Bücherrückstände der letzten Jahre aufgeholt – sagt Radosław, Einwohner von Maślice. – Zuhause hat man keine freie Minute fürs Lesen, weil Mittagessen, Kinder... Es gibt immer etwas Dringendes zu tun. In der Straßenbahn habe ich innerhalb einer Woche "Lód" (dt. Das Eis) gelesen, und es sind mehr als tausend Seiten. Insgesamt habe ich in dem halben Jahr etwa zwanzig Bücher gelesen.
Dem 42-jährigen zufolge eignen sich für die Straßenbahn am besten Romane, er selbst bevorzugt Fantasy, unter seinen Mitreisenden dominierten Liebhaber von Krimis, meistens aus Skandinavien. Auf den Titelseiten wiederholten sich die Namen: Stieg Larssson, Jo Nesbo, Henning Mankell.
- Der Großteil der Lesenden ist dreißig und älter. Die meisten lesen Bücher, aber immer mehr Menschen nutzen das E-book - meint Radosław.
Buchumschlag, Bart, Schirmmütze
Einige Tage lang setze ich mich neben Lesende in den Straßenbahnen hin. Es gehört sich nicht, sie zu stören und direkt zu fragen: was lesen Sie denn. Manchmal gelingt es, mit dem Augenwinkel den Titel zu erspänen, dann wiederum lassen dezente Signale auf die Lesevorlieben der Mitreisenden hindeuten.
Mit der Straßenbahn Nr. 33 fährt eine dunkelhaarige Brillenträgerin mit zarten Gesichtszügen. Am Buchumschlag kann man erkennen, dass sie Krimis liebt. Den dicken Band hat sie in Zeitungspapier mit Todesanzeigen umgewickelt.
Auf dem Weg nach Leśnica sitze ich einem jungen Mann gegenüber. Ein großer Kerl mit imposantem rotem Bart und T-Shirt mit Ornament einer Metal-Band. In der Hand hält er die "Festung" von Wilson, ein Buch, in dem Wehrmachtsoldaten unter geheimnisvollen Umständen in einem Schloss in rumänischen Bergen verschwinden. Ich stelle mich ihn als einen urzeitlichen Äon vor, der die Deutschen entführt.
Mit dem Bus der Linie C, der vom Platz Grunwaldzki in den Stadtteil Kozanów verkehrt, fährt ein Mann mittleren Alters mit dem Gesicht eines Intelligenzlers. Sorgfältig gekleidet, trägt manchmal eine Baskenmütze oder eine elegante Schirmmütze auf dem Kopf. Er liest immer, konzentriert, ohne seine Umgebung zu beachten.
Eines Tages erblickte ich einen charakteristischen Textverlauf auf der Buchseite: Gedichte. Autor: Milton, Titel: "Das verlorene Paradies".
Wie klingt englische Poesie aus dem siebzehnten Jahrhundert im Bus der Linie C, der in der Abenddämmerung Kozanów erreicht?: "Dann sprach der Mund des tiefgefallnen Engels/ Ist dies die Gegend, dies das Land und Klima,/ der Sitz, den mit dem Himmel wir vertauschen,/ das trübe Dunkel für das Himmelslicht?
Ihr, die Bücher nicht zurückgebt, bekehret euch
Im Fundbüro der Breslauer Öffentlichen Verkehrsbetriebe MPK füllen Taschen mit Büchern einen ganzen Schrank aus. Den scheinbar kostbarsten Fund bildet ein E-Book-Reader im schwarz-grauen Etui. Leider ist wohl sein Akku leer und man kann nicht hineinsehen, welche Literatur sein Besitzer bevorzugte. Es liegt bei uns schon seit Mai und niemand meldet sich – wundert sich Urszula Paszel vom Fahrgastservice-Büro der MPK.
Die Bücher sind in Plastiktüten verpackt. In der ersten befindet sich ein altes, voluminöses deutsch-russisches Wörterbuch, zwischen den Seiten – eine getrocknete Pflanze. Keine handschriftliche Signatur, kein Exlibris.
Eine weitere Tüte enthält eine Serie von Büchern, die von den Zeugen Jehovas herausgegeben werden, darunter: "Du wirst für immer im Paradies leben" und "Sei mein Nachfolger". Schön illustriert, sauber, ohne Knicke, wie es scheint, ohne Lesespuren.
Der Titel des nächsten Funds ist ebenfalls vielversprechend: "Das Paradies ist anderswo". Man sieht, dass sich viele Menschen für den Roman von Mario Vargas Llosa interessierten. Beweise? Die Ecken berieben, der Buchumschlag geknickt.
Das Lieblingsstück aus der Hausbibliothek? Von wegen. Stempel und Aufkleber der städtischen Bücherei in der ul. Prusa auf der Titelseite deuten auf den Besitzer hin. Irgendjemand hat sie verloren und wohl nicht vermisst. Vielleicht hat er sogar schon die Strafe bezahlt und vergessen. Und vielleicht warten noch andere auf "Das Paradies anderswo".
Es gibt mehr solche Sünder. In der nächsten Tüte: Jung, "Alices Tulpen", Feuilletons des Filmregisseurs Jerzy Gruza, offiziell im Bestand der Bücherei in der ul. Grabiszyńska. Verloren von einer Liebhaberin der Psychologie und Romanzen, sind sie im Depot der MPK steckengeblieben.
Eine weitere Tasche: Buch und Urkunde für Mateusz aus dem Kindergarten Nr. 3 für die Teilnahme am Kunstwettbewerb zum Thema: ein Portrait des Vogelbewohners der Stadt.
- Und dieses Buch sollte wohl ein Geschenk sein, denn es ist neu und schön verpackt – überlegen wir zusammen mit Urszula. Das Geburtstagskind war wohl genauso enttäuscht wie der kleine Mateusz, nachdem es sich herausgestellt hat, dass er die "Festung" von Igor Janke nicht bekommt.
Auf weiteren Regalen warten die nicht abgeholten: Biologielehrbücher für Unterricht im Lyzeum, "Glaube Gott mit dem Herzen" in sieben Exemplaren, ganz neu. – Eine junge Frau hat sich wegen ihnen gemeldet, ist dann doch nicht gekommen - erzählt Urszula.
Es gibt auch die Klassik der Straßenbahnliteratur: Agatha Christie und eine Tüte voll von ganz neuen Kinder- und Jugendbüchern.
Studien der Lesevorlieben
- Man sollte sich am besten am Fenster hinsetzen, so weit wie möglich vom Ausgang und Stempelautomaten. Im Bus am besten vorne, denn hinten holpert es mehr - Radosław gibt gute Tipps bezüglich des Leseplatzes.
Die Chefs der städtischen öffentlichen Betriebe wissen sehr genau, dass ihre Fahrgäste leidenschaftliche Leseratten sind. Im April, anlässlich des Internationalen Tages des Buches haben sie gemeinsam mit der Mediateka Bücher an Fahrgäste verteilt. Jeder, ob jung oder alt, hat die Gelegenheit wahrgenommen.
- Vielleicht wenn man das Leseverhalten in den Bussen, Straßenbahnen und Nahverkehrszügen untersuchen würde, würde das Ergebnis für Polen viel besser ausfallen als die paar Bücher, die der statistische Pole pro Jahr liest - sagt Radosław aus Maślice.